Denken wir zu viel, statt mehr zu machen? Häufig habe ich dieses Gefühl. Ich sitze in Meetings, Workshops oder ganz allgemein in einer beliebigen Runde von Erwachsenen. Da wird für gewöhnliche gerne debattiert. Fakten oder Pro und Contras werden sachlich erörtert. Man begibt sich auf die Suche nach simplen schlüssigen Lösungen auf die Probleme unserer Zeit. Das in einer Zeit der wachsenden Komplexität. Innerlich werde ich dabei ganz ungeduldig. Hört mir auf mit dieser Debattenkultur und beginnt doch einfach endlich damit an zu machen und auszuprobieren. Arbeitet mit dem Feedback, das ihr aus eurem Machen erhält, und entwickelt so im Doing die richtige Antwort. Lass uns von unserem Anspruch lösen, die richtige Antwort zu kennen oder erdenken zu können. Denn wir können die ganze Komplexität unserer Gegenwart sowieso nicht mehr kognitiv erfassen.
Die Politik macht vor, wie es nicht geht
Ganz prominentes Negativbeispiel ist die Politik. Sie schwelgt noch in der Erinnerung einer vergangenen Zeit, in welcher prominente Politiker mit einfachen „richtigen“ Lösungen und Botschaften eine ganze Bevölkerung mitreißen konnten. Der Anspruch bleibt der gleiche. Es wird immer noch binär gedacht. Führen wir diese Steuer ein, ja oder nein? Schließen wir die Grenzen, ja oder nein? Wir diskutieren darüber, ob Maßnahmen richtig oder falsch sind. Statt darüber zu diskutieren, ob es richtig ist, sie auszuprobieren. Wir führen die Debatte also so, als könnten wir auf die richtige Antwort kommen. Die Tatsache, dass wir aufgrund der so diffusen Realität zu keiner Antwort kommen, hält uns dann auf, überhaupt zu machen. Stillstand der sachlichen Parteien und Regierungen ist die Folge. Die emotionalisierenden angstmachenden Parteien und Politik setzen sich durch und gelangen zunehmend an die Macht. Aber das ist hier nicht das Thema, mehr zur Zukunft der Politik hier.
Vor dem Jahreswechsel war ich mit einer spannenden Gruppe von Menschen zu einem Frühstück eingeladen, das sich an der Salonkultur orientieren sollte. Ich dachte mich an diesem Anlass wiedermal in unserer gewohnten Komfortzone der Debattenkultur wiederzufinden. Eine Teilnehmerin konfrontierte uns dabei mit der Aussage, dass wir heutzutage einfach nur noch machen und gar nicht mehr richtig denken. Ich war im ersten Moment irritiert, weil es total entgegen meinem eingangs beschriebenen Gefühl ist. Um mein eigenes Bedürfnis nach Debatte und nach richtig und falsch zu befriedigen, habe ich sofort interveniert und meinen Standpunkt vertreten. Darauf sind wir als Gruppe vertiefend darauf eingegangen.
Bedeutungsvolle Gedanken können zum Machen bewegen
Meine neue Erkenntnis daraus: In beiden Perspektiven liegt ein Funken Wahrheit. Meine Perspektive habe ich schon erläutert. Es ist allerdings auch so, dass wir zu wenig denken. Oder besser gesagt: Wir denken auf der Ebene der Belanglosigkeit. Uns fehlt zunehmend die Zeit für tiefgründige bedeutungsvolle Gedanken, die über das Faktische hinweg gehen. Gefangen im Effizienzdenken und im Rausch der kurzen Aufmerksamkeitsspannen begnügen wir uns beim Denken mit der trügerischen einfachen Gleichung: Smarter Faktenaustausch auf Wikipedia Niveau liefert den Impuls zu bahnbrechendem Handeln. In Realität geht es aber nur darum, sich mit seinem bestehenden Gedankenkonstrukt zu profilieren und sich selbst von seinem eingeschlagenen Weg zu bestätigen. Offenheit für neue Erkenntnisse, Fehlanzeige.
Für eine echte Bewusstseinsveränderung benötigt es ausgedehnte Reflektionsräume. Es braucht philosophische Gespräche auf der Metaebene. Für diese braucht es Gespräche über Fakten UND Emotionen. Für diese braucht es den Dialog über die Fragen, die dahinter liegen. Für diese braucht es Zeit. Für diese braucht es Muße. Für diese braucht es offenes Interesse an den Perspektiven anderer. Für diese braucht es die Offenheit, sich zu hinterfragen. Für diese braucht es die entsprechende Kultur. Kein Mensch, kein Team, keine Organisation und keine Gesellschaft wird einen radikal neuen Weg einschlagen, wenn es sich nur faktenbasiert auf der rationalen Ebene versucht zu überzeugen.
Nehmen wir mal als konkretes Beispiel ein Unternehmen, das sich strategisch neu ausrichten möchte oder muss. Der übliche Weg ist ein sauber aufgesetztes zielorientiertes Strategie-Projekt. Es startet mit der faktischen Aufnahme und Verarbeitung von Mega-Trends und von Entwicklungen des Markts und der Wettbewerber. Schritt für Schritt werden diese Informationen ganz schlüssig zu einer neuen Strategie verdichtet. Sie macht sicherlich Sinn, aber sie riecht bestimmt auch sehr nach „weiter so“. Noch nicht getestete Hypothese an dieser Stelle, die ich gerne mal testen würde: Eigentlich bräuchte es die Möglichkeit, Pause zu drücken und mit dem Vorstand oder sogar allen Mitarbeitern über einen ausgedehnten Zeitraum in das Gespräch zu gehen. Dabei werden wir philosophisch und reflektieren über die wirklich wichtigen Fragen: Wer sind wir? Warum machen wir das hier? Was soll das überhaupt? Warum braucht es uns? Und erst wenn sie dadurch eine neue innere Klarheit erlangen, werden sie in der Lage sein, wirklich neue Wege zu gehen.
Unsere Debattenkultur ist unsere Comfort Zone
Diese zwei Perspektiven stehen auch in Wechselwirkung zueinander und lassen sich dementsprechend zu einer zusammenfassen: Wir befinden uns in der Comfort Zone der bedeutungslosen Debattenkultur. Wir debattieren lieber statt ernsthaft zu machen. Aber wir nehmen uns auch nicht die Zeit richtig bedeutungsvolle Gespräche zu führen, die unser Bewusstsein so verändern können, dass wir zum Machen gezwungen werden. Wir machen es uns also nicht im Sweet Spot, sondern im Shit Spot unseres Denkens komfortabel.
Wenn man sich nun die Zeit nimmt, tiefgründiger über diesen Shit Spot zu reflektieren, dann fällt auf, dass es ähnliche Muster der bedeutungslosen Mitte unseres Denkens auch an anderen Stellen gibt. Zum Beispiel beim Thema Innovation und der Ideengenerierung. Was da gerne passiert ist, dass man die beiden Extreme, wo Magic passiert, abschneidet. Am einen Ende ist es der erste Impuls, der allererste Gedanke, die allererste Idee, die aus der Hüfte geschossen kommt. Wir verfallen dabei in der Regel der Selbstzensur. Wir sprechen unseren ersten Gedanken nicht aus. Denn es kann doch nicht sein, dass meine erste unreflektierte und instinktive Idee gut ist.
Am anderen Ende haben wir die Leere oder die Redundanz. Es kommen keine neuen Gedanken. Oder nur nochmals die Gleichen anders formuliert. Halten wir diesen Zustand aus oder beenden wir die Übung im Sinne der Effizienz? Die Antwort ist klar und damit bestehlen wir uns der zweiten Magic Zone. Denn gute Ideen kann man nicht erzwingen, sondern sie kommen zufällig, beiläufig, dann, wenn der Moment richtig ist. Auch das erfordert Zeit und Muße.
In diesem Sinne, vielleicht kommt noch was, vielleicht auch nicht.